Entstehung der Sammlung
Ziele der Sammlung
Der Initiator der Sammlung
Viele Dinge und Institutionen wurden geschaffen, um einem Mangel abzuhelfen. So auch die Deutsche Auswandererbriefsammlung Gotha (DABS). Diese historisch gewachsene Sammlung steht auf zwei Sammlungssäulen: Die Bochumer Auswandererbriefsammlung (BABS), die in den 1980er Jahren unter der Leitung von Wolfgang Helbich an der Ruhr-Universität Bochum entstand und teilungsbedingt einen Sammlungsschwerpunkt in Westdeutschland hatte, und die Nordamerika-Briefsammlung (NABS), die in den 2000er Jahren unter der Leitung von Ursula Lehmkuhl in Kooperation mit der Forschungsbibliothek Gotha entstand und einen regionalen Sammelschwerpunkt im Gebiet der Neuen Länder hatte. Die Nordamerika-Briefsammlung komplettierte die Bochumer Auswandererbriefsammlung mit Briefe, die in die ostdeutschen Gebiete geschrieben worden sind. Beide Sammlungen zusammen bilden heute die Deutsche Auswandererbriefsammlung Gotha (DABS).
Wolfgang Helbich suchte für seine Forschung Briefe von deutschen Auswanderern in die USA im 19. Jahrhundert. Er fand dabei zahlreiche Briefeditionen aus dem Ausland, viele von zweifelhafter wissenschaftlicher Qualität, aber auch zwei, die voll überzeugten: Charlotte Ericksons Invisible Immigrants (1972) für England und Schottland und Giorgio Cheda, L'emigrazione ticinese in California, Epistolario (2 Bde. 1981) für das Tessin. Nur für Deutschland existierte weder eine repräsentative Edition noch ein auf Auswandererbriefe spezialisiertes Archiv oder eine größere Sammlung. Er kam rasch zu dem Schluss, dass diese Lücke für das Land mit den höchsten Auswandererzahlen im 19. Jahrhundert geschlossen werden müsse.
Ein 30-Zeilen-Text über die Wichtigkeit von Auswandererbriefen als historische Quelle, gekoppelt mit dem Aufruf, solche Briefe nach Bochum zu senden, wurde an 120 Tageszeitungen geschickt, von denen gut drei Viertel ihn auch abdruckten. Das löste einen gewissen Schneeballeffekt aus - ZEIT, HÖR ZU!, Radio - und brachte einen Bestand von zunächst rund 3000 Briefen ein, der bis 1990 auf 6000 wachsen sollte. So entstand die Bochumer Auswandererbrief-Sammlung (BABS).
Gut vier Jahre lang, 1984-1988, finanzierte die Stiftung Volkswagenwerk sehr großzügig das Forschungsprojekt "Auswandererbriefe als historische Quelle" unter Leitung von Prof. Wolfgang Helbich, der die Geschichte Nordamerikas in der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum vertrat. Wissenschaftliche Mitarbeiter, studentische Hilfskräfte und auch ehrenamtlichen Helfer (sie sind in Briefe aus Amerika [1988] namentlich aufgeführt) befassten sich in erster Linie mit der Erschließung des Materials, wobei die Transkription, die biographischen Archivrecherchen und der thematische Stichwortkatalog den Löwenanteil der Arbeitszeit beanspruchten. Unersetzlich war die Kooperation von Prof. Walter D. Kamphoefner, Texas A & M University, der als Auswandererforscher in den USA lehrt und mit den dort zur Verfügung stehenden Recherchemöglichkeiten unzählige Anfragen beantworten konnte. Ohne das VW-Geld und das Engagement der Mitarbeiter hätte nie eine Sammlung entstehen können, die durchaus den Anspruch erheben kann, quantitativ führend und qualitativ, hinsichtlich des Erschließungsgrades, einzigartig in der Welt zu sein.
Die unter dem Namen BABS bekannt gewordene Sammlung von Briefen, die deutsche Auswanderer ca. 1820 bis 1914 aus den USA nach Deutschland schickten, besteht aus einer gut 5.000 Texte umfassenden Sammlung gedruckter Briefe und ca. 7.000 unveröffentlichte Briefe, vor allem aus dem Zeitraum 1830-1930, teils im Original, teils in Kopien des Originals, zusammen mit sehr umfangreichem biographischen und deskriptiven Material. Die Zahl von rund 7.000 im Original oder in Kopie des Originals vorhandenen Briefen macht die BABS zu der mit Abstand quantitativ führenden in Deutschland und zu einer der drei oder vier größten in der Welt. Qualitativ steht sie konkurrenzlos weltweit an der Spitze in dem Sinne, dass keine andere so leicht zugänglich, so umfassend transkribiert und so intensiv recherchiert ist.
Zwei wissenschaftliche Editionen - Briefe aus Amerika (Beck 1988) und Deutsche im Amerikanischen Bürgerkrieg (Schoeningh 2002), jeweils etwa 600 Seiten - sind aus diesem Sammelprojekt hervorgegangen. Seit der Eröffnung der BABS sind kaum noch wissenschaftliche Abhandlungen zur Amerika-Auswanderung erschienen, ohne dass die Verfasser die Sammlung benutzt hätten. Die internationale Bedeutung der BABS wird auch dadurch dokumentiert, dass die Library of Congress die Sammlung vollständig auf Mikrofilm aufnehmen ließ, was 42 Filmrollen erforderte.
Etwa seit 1988 ist die BABS zwar intensiv genutzt, aber nicht mehr ausgebaut worden. Die Briefe wurden 1999 der Forschungsbibliothek Gotha anvertraut, die aufgrund ihrer umfangreichen Erfahrungen in der Verwaltung, Erschließung und Nutzbarmachung von Briefbeständen sowie ihrer geographischen Lage ein idealer Ort für die Sammlung ist. Mit der Überführung nach Gotha im Jahr 2000 und den mit der neuen Sammlung einhergehenden Erweiterungsplänen begann eine neue Auf- und Ausbauphase.
Ausgehend von der Tatsache, dass die BABS nur in der alten Bundesrepublik Briefe einwerben konnte, entwickelten Prof. Dr. Ursula Lehmkuhl, heute Professorin für Internationale Geschichte an der Universität Trier und Dr. Rupert Schaab, damals Leiter der Forschungsbibliothek Gotha, in Konsultation mit Prof. Helbich Anfang der 2000er Jahre den Plan, das weitgehende Fehlen von Briefen aus Amerika nach Ostdeutschland zu korrigieren, und zwar durch ein Projekt zum Sammeln und Erschließen, von Auswandererbriefen in die neuen Länder. Ziel des neuen Projektes "Amerikabriefe nach Ostdeutschland" war es, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die so erfolgreiche Bochumer Sammlung über ihre BRD-Zentriertheit hinsichtlich Sammelgebiet und Briefbestand hinaus wächst, durch Dokumente aus den Neuen Ländern ergänzt wird und sich damit zu einer gesamtdeutschen Auswandererbrief-Sammlung entwickelt. Ausgehend von der Tatsache, dass die BABS nur in der alten Bundesrepublik Briefe einwerben konnte, entwickelten Prof. Dr. Ursula Lehmkuhl, heute Professorin für Internationale Geschichte an der Universität Trier und Dr. Rupert Schaab, damals Leiter der Forschungsbibliothek Gotha, in Konsultation mit Prof. Helbich Anfang der 2000er Jahre den Plan, das weitgehende Fehlen von Briefen aus Amerika nach Ostdeutschland zu korrigieren, und zwar durch ein Projekt zum Sammeln und Erschließen, von Auswandererbriefen in die neuen Länder. Ziel des neuen Projektes "Amerikabriefe nach Ostdeutschland" war es, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die so erfolgreiche Bochumer Sammlung über ihre BRD-Zentriertheit hinsichtlich Sammelgebiet und Briefbestand hinaus wächst, durch Dokumente aus den Neuen Ländern ergänzt wird und sich damit zu einer gesamtdeutschen Auswandererbrief-Sammlung entwickelt.
Das ist im wissenschaftlichen Interesse in vielerlei Hinsicht dringend wünschenswert. Ein wichtiger Aspekt ist, dass die Probleme und Formen der Auswanderung in Deutschland nicht nur insgesamt regional verschieden sind, sondern auch und gerade zwischen den westdeutschen und den ostelbischen Territorien. Damit ist aber nur eine von vielen Forschungsperspektiven angesprochen. Die teilungsbedingte Forschungslücke ist am deutlichsten spürbar im Bereich alltags- und mentalitätshistorischer Fragestellungen, kann aber auch hinsichtlich von Untersuchungen zur Sprachentwicklung festgestellt werden.
Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierte neue Sammelprojekt intendierte zweierlei: einmal durch intensive Werbung möglichst viele Briefe, die noch in den Neuen Ländern in Privatbesitz sind, aufzuspüren und durch Kopieren oder Konservieren der Originale für die Nachwelt zu erhalten. Dabei verfolgte das Projekt neue Wege der Materialsammlung. Während die Bochumer Sammlung überwiegend mit Hilfe von Pressemitteilungen zusammengetragen wurde, sollte die Sammlung in den neuen Ländern auch die Schulen mit einbeziehen. Lehrer sollten zur Behandlung des Themas Auswanderung/Einwanderung im Unterricht ermutigt werden und auf diesem Wege Schüler motivieren, in Familie und Bekanntenkreis möglicherweise vorhandene alte Briefe aus Amerika aufzuspüren und sie im Original oder als Kopie der neuen Sammlung zur Verfügung zu stellen. Dazu sind umfangreiche Materialien für die Nutzung von Auswandererbriefen im Unterricht der Sekundarstufe I und II vorbereitet worden.
Zum anderen sollten die eingeworbenen Briefe auf den gleichen hohen Erschließungsstand wie jene der bestehenden Sammlung gebracht werden, also weitgehend transkribiert und hinsichtlich der Korrespondenten gründlich recherchiert werden. Dabei sollten unter Nutzung der EDV-Technik neue Wege der Katalogisierung und Archivierung des gesammelten und erschlossenen Briefmaterials erprobt werden. Die Erschließung sollte in einer Weise geschehen, dass eine wirklich integrierte Deutsche Auswandererbrief-Sammlung entsteht. Die arbeits- und zeitintensivste Aufgabe ist dabei das Transkribieren.
Briefe von Auswanderern sind nach wie vor neben den wenigen erhaltenen Tagebüchern die einzigen zeitgenössischen (Gegensatz: Memoiren) und sozialgeschichtlichen Zeugnisse bzw. "Ego-Dokumente" für die Prozesse der Auswanderungsentscheidung sowie der Orientierung und Integration im Gastland. Sie sind unersetzlich, weil nur sie über viele Aspekte der Auswanderung von sechs Millionen Deutschen nach Nordamerika verlässliche Auskunft geben, vor allem über deren Wünsche und Hoffnungen, Schwierigkeiten und Erfolge, Eindrücke und Vorurteile. Deswegen geht es hier nicht nur darum, Material für Historiker und Familienforscher zu finden, sondern ein angesichts der ständigen Verluste durch Tod und Umzüge akut bedrohtes wertvolles Kulturgut zu retten.
Ideen und Absichten hinter dem Aufbau und der Aufbereitung der Auswandererbriefsammlung sind einerseits wissenschaftlich, andererseits zumindest indirekt politisch und pädagogisch.
Die wissenschaftliche Seite betrifft in erster Linie die historische, insbesondere die sozialgeschichtliche Forschung: amerikanische und deutschamerikanische, Migrations- und Auswanderungsgeschichte. Nur Briefe (neben den wenigen Tagebüchern) bieten zeitgenössische Aussagen, die nicht von langjähriger Erinnerung (wie z.B. Autobiographien, oral history) verfälscht sein können, sondern tatsächlich weitgehend zeitgleich gemacht wurden. Keine andere Quelle gibt so unmittelbar Auskunft über die Lebens-, Wissens- und Erfahrungswelten von Menschen, die ohne Migration keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen hätten.
Noch eine andere Wissenschaftsdisziplin (neben der Soziologie in ihren historischen Dimensionen, der Anthropologie und der Ethnologie) profitiert von der Briefsammlung: die germanistische Sprachwissenschaft. Das Interesse der Linguisten beruht darauf, dass schriftliche Zeugnisse wenig gebildeter Menschen vor 1900 so selten sind, dass Auswandererbriefe den größten erhaltenen Bestand bilden. Das liegt einmal daran, dass Menschen, die sich nicht weit und dauerhaft von ihrer Heimat entfernten, selten Grund zum Briefeschreiben hatten und zudem die Briefe aus Amerika viel eher aufbewahrt wurden als solche aus Dortmund oder Breslau, des exotischen Wertes wegen oder weil die Empfänger selber an Auswanderung dachten.
Politisch-pädagogisch erschien es wichtig, die Erkenntnis zu vermitteln, dass Deutschland, heute Gastland für Türken, Jugoslawen und viele andere Nationalitäten, im 19. Jahrhundert seinerseits 5,5 Millionen Menschen in die USA entließ, die als einwandernde fremde Minderheit in einer zum Teil durchaus vergleichbaren Lage waren wie eingewanderte Ausländer in Deutschland heute. Und während jeder genaue Vergleich z.B. Türken in Deutschland, Deutsche in den USA wegen der dazwischen liegenden 100 bis 200 Jahre rasanter ökonomisch-sozialer Entwicklung hinken muss, weist das in den Briefen umfassend dokumentierte Schicksal der deutschen Einwanderer - Freude über politische Freiheit und soziale Gleichheit, Diskriminierung, fremdenfeindliche Verfolgung, wirtschaftlicher Erfolg, ethnisches Eigenleben, Heimweh, Isolierung und Selbstisolierung etc. - so viele zumindest scheinbare Parallelen zum heutigen Ausländerschicksal in Deutschland auf, dass sie durch den Rollentausch verstärktes Nachdenken auslösen könnten.
Auswandererbriefe können Verständnis für die heutigen Probleme von Ausländern in Deutschland wecken.
Wolfgang Helbich, Professor für Nordamerikanische Geschichte i.R., der Initiator der Sammlung, hat in den 1980er Jahren begonnen, diesen bis dahin zu wenig beachteten Schatz zu heben und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
1935 in Berlin-Steglitz geboren, studierte er Geschichte, Anglistik und Romanistik, Philosophie und Pädagogik an der FU Berlin, in Heidelberg, an der Sorbonne und wieder in Berlin. Er war 1956-58 als Fulbright-Stipendiat an der Princeton University, wo er mit dem BA in History abschloss. Die Promotion mit einer von Hans Herzfeld betreuten Arbeit (Die Reparationen in der Ära Brüning: Zur Bedeutung des Young-Plans für die deutsche Politik 1930-1932, Berlin 1962) sowie seine Arbeit als Stipendiat der List-Gesellschaft - Assistenz beim Verfassen des zweiten Memoiren-Bandes von Dr. Hans Luther und nach dessen Tod Herausgabe des Manuskripts (Vor dem Abgrund: Reichsbankpräsident in Krisenzeiten, Berlin 1964) - weisen ihn als Kenner der neueren deutschen Geschichte aus.
Seine Lehrtätigkeit in Amerikanistik am Anglistischen Seminar der Universität Heidelberg wie im Rahmen des BA-Programms der University of Maryland, European Division führten die in Princeton begonnene Beschäftigung mit der amerikanischen Geschichte weiter. Als Übersetzer von rund 25 Büchern, als Forschungsstipendiat des American Council of Learned Societies in Princeton und Washington 1964-66, als Professor für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Geschichte Nordamerikas (von 1974 bis 2000) in Bochum, als Biograph Franklin D. Roosevelts, aber auch als Mitherausgeber und Autor im bundesdeutschen Teil des fünfbändigen "Guide to the Study of United States History Outside the U.S., 1945-1980" (White Plains, New York, 1985) hat er sich mit weiteren Sektoren der amerikanischen Geschichte und Gesellschaft vertraut gemacht. Seit Anfang der 1980er Jahre konzentrierte er sich auf Auswanderungsforschung, insbesondere auf das Sammeln und Analysieren von deutschen Auswandererbriefen.