Deutsche Auswandererbriefsammlung

D A B S

Presseberichte

Deutsches Pfarrerblatt, 9.9.04
Tagesspiegel Berlin, 21.10.03
Maerkische Allgemeine, 17.7.03
Magdeburger Volksstimme, 12.7.03
Ostthüringer Zeitung, 3.7.03


Deutsches Pfarrerblatt, 9. September 2004
Leben in der Fremde: Auswandererbriefe als schriftliche Zeitzeugen

Wolfgang Helbich, Schnepfenthal

"Auch wir alle liebe Schwester haben auf Dornenwegen gewandelt, wie wir amerikanischen Boden betreten hatten. Keine Sprache, keine Sitte, keine Freunde."

"… und namentlich ist's dem Deutschen von Ehre und Stolz ein bitterkränkendes Gefühl, seine Landsleute als lästige Eindringlinge, gewissermaßen als untergeordnete Menschenklasse betrachtet u. behandelt zu sehen, wie's die Mehrzahl der unwissenden, aufgeblasenen, egoistischen Volkes Amerikas zu thun gewohnt ist."

"In seinem Dünkel hält er [der Nordamerikaner] die Ausländer für Menschen niederen Grades; und dieses trifft hauptsächlich die Deutschen…"

"Die Amerikaner sind sehr geneigt, die Deutschen etwas hintan zu setzen. Sie halten die Eingewanderten nur gut zum Arbeiten und bemogeln dieselben, wo sie können."

"… die Amerikaner haben einen großen Widerwillen gegen alle Deutschen und setzen sie überall zurück…"

So schrieben deutsche Auswanderer in Briefen aus den USA in die alte Heimat – ein Landwirt aus Westfalen 1875, ein Bergingenieur aus Hessen 1857, ein Drucker aus Westfalen 1835, ein Jurastudent ohne Examen von der Wesermündung 1863 und ein Arzt aus Rostock im selben Jahr.

In einem sind sie sich einig: Deutsche Einwanderer wurden von den Angloamerikanern weder mit offenen Armen empfangen noch hofiert noch besonders hoch geschätzt. Manchem mögen dabei Parallelen einfallen zur Gegenwart in Deutschland – dass ganz ähnlich, nur mit ausgewechselten Etiketten, Türken oder Marokkaner von hier nach Hause schreiben könnten; oder dass nicht wenige Deutsche, wenn sie ganz ehrlich sind, sich wohl eher mit den Mächtigen identifizieren können als mit den Diskriminierten; oder schließlich, wie sich das Blatt für die Deutschen gewendet hat: Die Generation der Ur-Urenkel jener mit Misstrauen und Geringschätzung betrachteten Fremden findet sich als Mehrheitsgesellschaft in der dominierenden, tonangebenden Rolle gegenüber anderen Fremden und täte sicher gut daran, sich diese Umkehrung der Verhältnisse gelegentlich vor Augen zu führen.

Dieser Spiegel-Effekt oder allgemeiner gefasst die konkrete, persönliche und vertrauliche Schilderung der allmählichen Integration in die Gastgesellschaft, die eine Vielzahl von Fragen aufwirft hinsichtlich der Übertragbarkeit dieser Erfahrung auf andere nationale Eingliederungsprozesse und natürlich auch nach den Unterschieden, die eine einfache Gleichsetzung verbieten – sie sind einer der Gründe, warum Auswandererbriefe für mehrere wissenschaftliche Disziplinen von großem Interesse sind, warum sie gesammelt werden und weshalb sie erschlossen, archiviert und Wissenschaftlern wie ernsthaften Interessenten zugänglich gemacht werden.

Im imposanten Gothaer Schloss Friedenstein befindet sich als Teil der Universitätsbibliothek Erfurt die aus der Herzoglichen Bibliothek hervorgegangene Forschungsbibliothek Gotha, die zu den vier deutschen Institutionen mit den wertvollsten und reichsten Beständen an frühen Drucken und Büchern etwa bis Mitte des 19. Jahrhunderts gehört. Seit kurzem ist Teil dieser in vieler Hinsicht elitären Bibliothek eine Sammlung, die eher das Leben des gemeinen Mannes, der schreibungewohnten Bäuerin, des ehrgeizigen jungen Kaufmanns dokumentiert: die Nordamerikabriefsammlung (NABS), ehemals Bochumer Auswandererbrief-sammlung (BABS).

Was ist das und was soll das? Die Antwort auf die erste Frage lautet in der kürzestmöglichen Form: gut 7500 unveröffentlichte Briefe, die deutsche Auswanderer nach Nordamerika, deren es im 19. Jahrhundert fast sechs Millionen gab, nach Deutschland schrieben, sowie etwa 3000, die in gedruckter Form erschienen sind. Gesammelt wurden die ersteren an der Ruhr-Universität Bochum vor allem durch Aufrufe in der Presse der Bundesrepublik in den 1980er Jahren. Finanzielle Unterstützung durch die Stiftung Volkswagenwerk ermöglichte es, nicht nur den größten Teil der in deutscher Handschrift für viele schwer zugänglichen Texte mit der Maschine abzuschreiben, sondern auch durch Recherchen in deutschen und amerikanischen Archiven Informationen über das Leben der Briefschreiber vor und nach der Auswanderung zu sammeln. Das Ergebnis ist die umfangreichste Auswandererbriefsammlung in Europa und die am besten erschlossene und dokumentierte weltweit. Die Sammlung, die aus ihr hervorgegangenen Editionen und sonstigen Veröffentlichungen sowie das laufende Projekt "Neue Länder" werden ausführlich im Internet beschrieben: www.auswandererbriefe.de.

Die Frage nach dem wozu? ist nicht mit wenigen Sätzen zu beantworten. Einerseits erschienen Sammlungen von Auswandererbriefen schon fast gleichzeitig mit dem Beginn der Massenauswanderung: Nicht weniger als vier in den 1830er Jahren, dann zwei Dutzend während der beiden folgenden Jahrzehnte, und dazu buchstäblich Tausende von Briefen gedruckt in Zeitungen und Zeitschriften. Diese Veröffentlichungen haben zweierlei gemeinsam: Fast alle sollten einem Zweck dienen, ob für oder aber gegen die Auswanderung oder auch nur zum Profit durch die Attraktivität des exotischen Genres. Durch den Verlust der Originale ist nicht mehr festzustellen, was der Briefschreiber und was der Herausgeber formuliert (oder gestrichen hat). Weitgehend mit Recht haben Historiker diese edierten Briefe großenteils ignoriert. Doch nicht die Unzuverlässigkeit der Quelle war der Grund, sondern die Tatsache, dass ein zünftiger Geschichtsforscher bis weit ins 20. Jahrhundert hinein sich mit antiken oder modernen Staaten und großen Männern befasste, aber beileibe nicht mit dem Leben des gemeinen Volkes, geschweige denn ihren privaten Schreibereien oder gar den Gefühlen, die darin Ausdruck fanden.

Erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, als sich Historiker massiv der Sozialgeschichte zugewandt hatten, wurde auch der Auswandererbrief als ernstzunehmende Quelle entdeckt, und in einer ersten Welle erschienen nationale oder regionale Briefeditionen (sehr unterschiedlicher Qualität). Zu den ersten gehörten Schweden, Dänemark und Norwegen, England und Schottland, Wales, Niederlande, Deutschschweiz, Tessin, Italien, Polen, 1988 kam auch Deutschland (vor allem: BRD) dazu. Zunächst interessierten sich für diese Briefe ausschließlich Historiker, die sich mit dem Phänomen Auswanderung befassten, und sie stellen auch heute noch eine deutliche Mehrzahl der Wissenschaftler, die mit Auswandererbriefen arbeiten. Aber es kamen andere Disziplinen hinzu – Sprachwissenschaft, Historische Anthropologie, Ethnologie, Soziologie und vor allem auch Wissenschaftler, die über das Eigenleben der ethnischen Gruppen in Nordamerika arbeiten. Theologen haben sich mit diesem umfangreichen Quellencorpus noch nicht befasst, obwohl gerade auch für sie hier wahre Schätze verborgen liegen. Es ist darauf zurückzukommen.

Was waren Funktion und Inhalt dieser Briefe, was macht sie für die Wissenschaft zu einer wichtigen und sogar unersetzlichen Quelle? Anders als bei heutigen Migrationen nach Deutschland und wohin auch immer bedeuteten Abschied und Trennung der Auswanderer von ihrer Familie beinahe mit Sicherheit Abschied und Trennung für immer. Umso wichtiger war es, den emotionalen Rückhalt der Zurückgebliebenen zu behalten und sie der eigenen Zuwendung zu versichern. Die Briefe waren also nicht nur eine Verbindung über den Atlantik, über die der Rest der Familie über das Ergehen der Auswanderer auf dem Laufenden gehalten wurde und umgekehrt, sondern eine moralische Rückversicherung, eine Vergewisserung des nicht Vergessenwerdens. Ausgedrückt wurde die beiderseitige Fürsorge durch ausführliche Berichte über Familienmitglieder und Bekannte, eindringliche einschlägige Fragen, erbetene oder unerbetene Ratschläge, natürlich auch entsprechende Beteuerungen, Abbitte, Besserungsgelöbnisse.

Nahezu ebenso wichtig waren die nach Deutschland geschickten Briefe als Antwort auf die ausdrückliche oder indirekte Frage, ob die Verwandten oder Bekannten denn nachkommen, auch auswandern sollten. Entgegen einem bis heute weit verbreiteten Eindruck schrieben die meisten Auswanderer nicht Lobeshymnen auf die neue Heimat und animierten die Lieben in Deutschland nicht, die Koffer zu packen und die Passage zu buchen. (Eine kleine Minderheit tat es, aber dabei handelte es sich um besonders gelagerte Fälle oder schlichten Leichtsinn.) Stattdessen schrieben sie seitenlang über Klima und Boden, Verdienst und Preise, Berufschancen für bestimmte Handwerke und Dienstmägde, Heimweh und die Amerikaner, um dann fast formelhaft zu schließen: Zu- oder abraten tun wir nicht; wir schildern nur, wie es ist; entscheiden müsst Ihr Euch selbst.

Warum diese Zurückhaltung? Der im 19. Jahrhundert noch enorm starke Familienzusammenhalt, von dem eben die Rede war, brachte auch eine selbstverständliche, praktisch nie in Frage gestellte, Verpflichtung mit sich: Die nachwandernden Verwandten mussten aufgenommen werden, bis sie eine Wohnung gefunden hatten, ernährt und versorgt, bis sie auf eigenen Füßen standen, und nicht zuletzt musste für sie gedolmetscht und ihnen bei der Arbeitsuche geholfen werden – Hilfeleistungen, die kostspielig sein und sich auch über längere Zeit erstrecken konnten. Zu alledem waren die Briefschreiber bereit, ob nun den Konventionen sich beugend oder auch aus eigenem Antrieb und gern. Doch erfahrungsgemäß war die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Neueinwanderer von Amerika enttäuscht waren oder das Heimweh übermächtig wurde, und sie ihren Auswanderungsentschluss bereuten, vor allem in den ersten Monaten. Und sich neben allen Bemühungen, Kosten und Unbequemlichkeiten nun auch Vorwürfe anhören zu müssen, weil man den falschen Rat zur Nachwanderung gegeben hatte – nein, das wollte sich niemand antun. Tatsächlich scheint es, als sei mehr deutlich ab- als direkt zugeraten worden.

Deutsche Historiker haben die Massenbewegung der sechs Millionen Deutschen nach Nordamerika im 19. Jahrhundert erst sehr spät zu erforschen begonnen. Einfache Menschen waren kein ehrbarer Forschungsgegenstand. Lange sah man Auswanderer als vaterlandslose Gesellen, deren Verlust die Macht des Reiches schwächte, und während Auswanderung und Auslandsdeutsche als Untersuchungsgegenstand in den 1930er Jahren Hochkonjunktur hatten, waren sie als Forschungsgebiet gerade deshalb bis in die 1970er Jahre als nationalistisch wenn nicht nazistisch diskreditiert und fast tabu.

Die allmähliche Normalisierung und weitgehend Rehabilitierung des Themas Auswanderung traf zusammen mit dem Siegeszug der Sozialgeschichte, deren Schwergewicht zwar zunächst auf Statistiken und berechenbaren Größen lag, die aber bald auch einen Zweig entwickelte, der sich mit "Ego-Dokumenten" – Briefen, Tagebüchern, Autobiographien und Zeitzeugen-Interviews befasste. Etwa gleichzeitig mit den Auswandererbriefen zog eine andere Kategorie von Briefen die Aufmerksamkeit von Wissenschaftlern und Publikum auf sich, der Feldpost- oder Kriegsbrief, und es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass diese beiden Briefarten ganz wesentliche Gemeinsamkeiten aufweisen, die vor allem die Trennung für immer, die große Entfernung und vor allem die Funktion des Zusammenhaltens der Familie betreffen.

Seit Ende der 1970er Jahre wurden in Deutschland, aber auch in den USA, zahlreiche Dissertationen, Bücher, Artikel und auch einige Habilitationsschriften zur deutschen Amerika-Auswanderung verfasst, und in zunehmendem Masse waren unter den Quellen Auswandererbriefe. Was kann diese Quelle aussagen, und in welchen Bereichen ist sie wichtig, vielleicht sogar unentbehrlich, ja unersetzlich?

Um mit dem am wenigsten Erwarteten zu beginnen: Germanisten haben entdeckt, dass die erhalten gebliebenen und zugänglichen Auswandererbriefe das umfangreichste Corpus von Schriftlichkeit einfacher, wenig gebildeter Menschen in Deutschland aus dem 19. Jahrhundert darstellt. Und ein Linguist hat bereits seine erfolgreiche Münsteraner Habilitationsschrift (2002) auf der Grundlage solcher Briefe verfasst. Ihn interessierten also weniger der Inhalt als die Sprache der Schreiben.

Für Historiker und die angrenzenden Disziplinen, die sich mit Auswanderung, Einwanderung, Migration überhaupt, Integration oder ethnischem Eigenleben eingewanderter Minderheiten befassen, interessiert die Sprache vor allem als Messlatte des Bildungsgrades; für sie ist der Briefinhalt von zentraler Bedeutung. Und hier interessieren vor allem zwei Bereiche: Informationen, die auch in anderen Quellen – Zeitungen, Statistiken, Akten – gefunden werden können, und solche, die ausschließlich Briefe (und die seltenen erhalten gebliebenen Tagebücher) zu liefern vermögen.

Angaben, die auch anderswo erscheinen, sind zwar weniger unentbehrlich, aber keineswegs überflüssig. Zunächst stellen sie ein wichtiges Korrektiv dar für bis heute geäußerte Pauschalurteile, die z.B. in der Presse eifrig gepflegt wurden, wie "alle deutschen Einwanderer waren entschieden gegen die Sklaverei." Sortiert man ein paar Dutzend Briefe aus den 1850er und 1860er Jahren nach der darin zum Ausdruck kommenden Haltung zu dieser Frage, so muss man konstatieren, dass der Stapel derer, denen die Sklaverei völlig egal ist, die sie als notwendiges Übel rechtfertigen oder sie schlichtweg gutheißen, beinahe ebenso hoch ist wie jener mit der erwarteten Meinung. Daneben verleihen sie Sachverhalten – zum Beispiel der Stellung der Frau in der amerikanischen Gesellschaft-- Farbe und Lebendigkeit, indem sich plötzlich aus grauen Zahlenkolonnen oder soziologischen Diagrammen leibhaftige Menschen mit ihren konkreten Erlebnissen herausschälen.

Nicht nur ergiebiger, sondern vor allem auch durch nichts anderes zu ersetzen sind die Briefe als Quelle für Hinweise auf den gesamten emotionalen Bereich der Auswanderer. Mit welchen Hoffnungen, Erwartungen, Befürchtungen kamen sie nach Amerika? Wie passten ihre Wünsche sich im Laufe der Jahre der Realität an? Wie fest hielten sie an ihrem kulturellen Erbe, ihrer Religion, ihren Wertvorstellungen, ihrem Brauchtum in einer fremden neuen Welt? Wie empfanden sie Verhalten und Sitten der Amerikaner, den Lebensstandard und das Arbeitstempo, die englische Sprache, ihre Rolle als Minderheit? Welche Rolle spielen Heimweh und verbleibende Identifikation mit der alten Heimat? Die Reihe der Fragen ließe sich lange fortsetzen.

Briefe beantworten aber nicht nur diese Art von Fragen, sondern ergänzen auch die faktischen Mitteilungen, von denen weiter oben die Rede war. Bei der Haltung zur Sklaverei etwa lässt sich meist auch erkennen, warum sie eingenommen wird, welche Ängste, welcher Gerechtigkeitssinn, welche Unsicherheit, welche Erfahrungen, welcher Wissenshorizont dahinter stehen. Und bei der je individuellen Vorstellung von der amerikanischen Frau wird spiegelbildlich deutlich die Haltung zur deutschen bzw. zur eigenen Ehefrau, weil hier ein Konflikt der Kulturen alle Äußerungen durchzieht: Amerikanische Frauen seien verwöhnt, faul, unordentlich, eitel und nichtsnutzig, so die männlichen und großenteils auch weiblichen Vertreter der Auffassung, die Frau müsse auf dem Hof und im Feld oder im Geschäft von früh bis spät hart arbeiten, wenn es die Familie zu etwas bringen will. Amerikaner betrachteten die Deutschen oft als Ausbeuter und Sklaventreiber ihrer Frauen, während die deutschen Einwanderer mehr oder weniger am "Normalzustand" festhielten und dementsprechend Amerikanerinnen als Schmarotzer verunglimpften.

Fast immer den meisten Raum nahmen in den Briefen Familie und Bekannte hüben und drüben ein. Es folgen die für eine eventuelle Nachwanderung interessanten Informationen über Verdienst, Arbeitsmarkt, Preise und das Klima. Die eigene Arbeit und das Fortkommen werden gern beschrieben, der Versorgungslage der unteren Schichten in Deutschland entsprechend auch Essen, Trinken und Kleidung mit großer Detailfreude geschildert ("dreimal Fleisch am Tag", "Brot wie bei Euch der Kuchen"). Auch die amerikanische Gesellschaft und deutlich weniger die amerikanische Politik haben ihren Platz in den Briefen, häufig im Vergleich mit der alten Heimat, der fast immer eine mehr oder weniger heftige kritische Note zu Armut, Not, Steuern, Gendarmen und Fürsten, bei den Freidenkern auch "Pfaffen" enthält, wenn auch gepaart mit wehmütigen Erinnerungen und ungeachtet des Widerspruchs Stolz auf Deutschland. Bei der großen Mehrzahl ist die Kirche, gleich welcher Konfession, nicht unter den angegriffenen Institutionen.

Religion und Kirche bilden einen Komplex, der in informatorischer wie in emotionaler Hinsicht in den Auswandererbriefen eine wichtige Rolle spielt. Das ist nicht überraschend, weil auf individueller Ebene der Stellenwert der Kirche und der Frömmigkeit im 19. Jahrhundert ungleich größer oder zumindest sichtbarer war als im 20., vor allem aber auch, weil die Kirchen im Wanderungsprozess eine ganz zentrale Position hatten. Das gilt nicht nur für die deutsche Amerika-Auswanderung des 18. Jahrhunderts, wo religiöse Verfolgung, kirchliche Initiativen, geistliche Lenkung von Kolonien und atlantikübergreifende Beziehungen zwischen Pfarrern und Gemeinden im Vordergrund standen und auch in der Historiographie gebührend Beachtung gefunden haben.

Es gilt auch für das 19. Jahrhundert, obwohl Wanderungsforscher lange brauchten, bis weit in die 1980er Jahre hinein, um dies zu erkennen und ihre Forschungsinteressen entsprechend auszurichten. Zwar hatte die vornehmlich religiös bedingte Auswanderung entscheidend an Bedeutung verloren – Altlutheraner, Mennoniten, Katholiken im Kulturkampf, Juden waren inmitten der Massenauswanderung zahlenmäßig fast unerheblich -- , aber bei der Lenkung der Einwandererströme, bei Beratung und praktischer Hilfe, dem Aufbau von Siedlungen mit Kirchen, Gemeindehäusern, Schulen und Wohlfahrtseinrichtungen, im kulturellen Leben und auch bei der Interessenvertretung der deutschen Bevölkerung und bei der Vermittlung zwischen ihr und den amerikanischen Behörden und Institutionen waren Kirchen und Pfarrer tonangebend. Neu war die ungewohnte Konkurrenzsituation zwischen den verschiedenen evangelischen Synoden und Freikirchen, und während die katholische Kirche trotz erheblicher Konzessionen an amerikanische Gepflogenheiten im Grundsatz ihre Einheit bewahren könnte, tobten hier heiße ethnisch bestimmte Auseinandersetzungen vor allem zwischen den deutschen und den übermächtigen irischen Klerikern, an denen sich zeitweise auch polnische und italienische Priester und ihre Gemeinden beteiligten.

Religion und Kirche erscheinen in den Auswandererbriefen vor allem in zwei Zusammenhängen. Da sind einmal Beschreibungen der Kirche im Alltag, die deutlich machen, dass im "kulturellen Gepäck" der Auswanderer nicht der Thron war – die Obrigkeit in ihren verschiedenen Stufen vom Bürgermeister über die Steuerbehörde und den Landrat bis zum Landesherrn – und auch nicht die Zollschranken, die Zunftordnung, der Respekt vor den höheren Ständen, wohl aber der Altar. Auf geistlichen Trost in der Stunde von Trauer und Katastrophen, auf Predigt und Gottesdienst, auf den kirchlichen Segen bei Lebensstationen wie Taufe und Eheschließung wollte die große Mehrzahl keinesfalls verzichten. Freigeister und Gleichgültige waren klar in der Minderzahl. Allerdings entstand mit der finanziellen Abhängigkeit der Pfarrer in Amerika von den Zuwendungen ihrer Gemeinden auch ein erkennbar größeres Selbstvertrauen und eine eher kritische Haltung der Gemeindeglieder zu ihrem Hirten, als man dies in Deutschland gewohnt war.

Hier sind ein paar Beispiele.

Mittwoch vor 8 Tagen war hier im Hause Kindtaufe, wo 12 Kinder mit unserem Beby hier zusammen getauft wurden. Zu dem Zweck ließen sämtliche umliegenden Deutsche einen Pastor aus Spokane-Falls kommen, welcher uns nach der Taufe noch eine große Predigt hielt. Du kannst Dir vorstellen, was in dem kleinen Hause für Kindergeschrei und Spectakel war. (Ein Landwirt im Staat Washington, 22, an seine Mutter, 2. 12. 1889.)

Der Boden ist hier sehr reich und fruchtbar, nach Jahren haben wir hier eine schöne, deutsche Ansiedlung, kriegen hier auch eine deutsche lutherische Kirche und Schule. Die Gemeinde ist schon gegründet und morgen wird beraten über Kirchenbau. Ich bin mit zum Kirchenvorstand gewählt worden. (Ein sehr erfolgreicher Landwirt, gleichfalls in Washington, 34, aus dem Raum Bremen ausgewandert 1882, an seinen Bruder am 22. 9. 1889.)

Neuigkeiten weiß ich Euch nicht viel zu schreiben als dass wir jetzt Seut dem Dezember vorigen Jahres auch einen Evangelischen Pfarrer haben einen jungen Mann etwa 24 Jahre alt, er ist aus Baiern aus Schwolbach er heißt Christian Baur, wer stuttierte schon in Deuschland und vollens im Staad Iowa zu Wartburg er ist ein ausgezeichneter Prediger. Er predigt in Nuport in St Clari und wo halt Lutherische Leute sich befinden, die Gemeinde gibt ihm dann Jährlich so u. so viel es ist noch nicht ausgemacht. (Ein Schneider aus Blaubeuren, 37, 1853 ausgewandert, aus einer Kleinstadt in Michigan an seinen Vater und Verwandte, 11. 2. 1858. Seine Witwe schrieb kurz nach dessen Tod, 33 Jahre später, aus demselben Ort an ihre Schwägerin am 11. 6. 1891):

… die Leiche was am Sonntag, eine so große Leiche ist noch nicht geweßen die Leute können sich’s nicht denken, es sind 3 Vereine da bei geweßen der Kranken verein hat die Mussick geschickt, wir haben den Presbiterie Pfarrer gehabt, er ist Englisch er ist ein sehr guter Mann , mit dem Deutschen Pfarrer sind wir nicht gut, er ist zu jung und zu unerfahren vor so eine alter Gemeinde, meine 3 Söhne haben sich bei keiner Kirch an geschlossen, sie sind gegrade so gut ab, sie sind getauft und Confermiert, sie haben immer gut Glück gehabt, es heißt ja fürchte Gott thue recht, und scheue niemand wenn man dießes thut so wird man auch recht finden, ich habe dieße Pfarrer ausgefunden, immer nur ums Geld, wer viel gibt der ist an gesehen…

Zum anderen enthalten viele Briefe fromme Ermahnungen und Bekenntnisse, religiösen Trost und Lebenshilfe. Hiob, ein heutigen Schulkindern weitgehend unbekannter Name, wird in Trauerfällen häufig angeführt, aber es gibt auch ein allgemeiner formuliertes sich Fügen in Gottes Willen; so der Verfasser des ersten Eingangszitats im selben Brief:

Ja liebe Schwester, ich würde der glücklichste Mann der Erde sein, wenn ich meinen lieben Sohn an meiner Seite behalten hätte, der die Stütze meines Alters gewesen wäre, aber der Mensch denkt und Gott lenkt, alles ist eitel auf dieser Welt.

Und der eben zitierte Farmer in Washington (34) im selben Brief wie oben:

Du brachtest mir die Nachricht, dass unser lieber Vater nicht mehr zu den Lebenden zählt …. Der liebe Gott hat ihn aus Gnaden zu sich genommen, das hoffen wir doch wenigstens….Wir haben daraus zu lernen, dass auch unsere Tage immer weniger werden, und wie bald mag unser Ende herbei kommen. Der Herr möge uns behüten vor einem bösen schnellen Todes….So ihr Nahrung und Kleidung habt, so lasset Euch begnügen, sagt unser Heiland. Denn wir haben nichts in die Welt gebracht und werden auch nichts mit hinaus nehmen. Sorgen, Segnen und Seligmachen müssen wir unserem Herrgott überlassen. Dabei bleibts und nichts kann daran geändert werden. Ich wünsche Euch allen Gottes reichen Segen …

Der letzte hier zu zitierende Briefschreiber, ein weiterer Landwirt, aus Südbaden, 1830 geboren und 1854 ausgewandert nach Missouri, stellt mit seinen Briefen an Eltern und Geschwister in seinen frommen Äußerungen qualitativ und quantitativ allerdings eine Ausnahme dar:

In meiner Familie herrschte letzten Sommer tiefe Betrübnis, verursacht durch den unerwarteten schmerzlichen Verlust meines geliebten und hoffnungsvollen Kindes George Washington…. Doch wir trauern nicht als die keine Hoffnung haben. Die Zeit flieht schnell dahin & vielleicht müssen auch bald wir ihm folgen, wo wir ihn in den Wohnungen des Himmels in seinem verklärten Zustande wieder finden werden; darum laßt uns alle getreu sein bis in den Tod, damit wir die Krone ernten, welche Gott verheißen hat, denen welche ihn lieben. (19. 2. 1865)

Ich bin sehr oft geneigt entmuthigt zu werden wenn nicht alles gut geht & es ist mein sehnlicher Wunsch dass ich im Laufe dieses Jahres wachsen möge in der Gnade Gottes , dass ich mehr leben möge wie es Gott wohlgefällig ist, dass ich mich mit kindlichem Vertrauen ihm ganz in die Arme werfen möge….auch ich muß mit tiefer Demuth bekennen, dass ich oft sehr weit von dem Pfade abgewichen bin, welchen der Heiland gewandelt ist…..Ich will mit der Hilfe Gottes versuchen zu beten & zu kämpfen mehr zur Ehre Gottes zu leben. Was kann uns die Welt mit allen ihren Schätzen in der Todesstunde helfen? Nichts, unsere alleinige Hilfe ist in Jesu, unserem Heiland. (9. 1. 1870)

Ich fühle mich zu heißester Dankbarkeit gegen Gott verpflichtet für die vielen Beweise seiner Barmherzigkeit gegen mich sowohl als auch gegen alle m/ Angehörigen…. Gottes Gnade ist hinreichend uns durch alle Trübsale hindurch zu leiten, wenn wir nur willens sind, uns leiten zu lassen. Wir haben viel mehr Ursache zur Dankbarkeit als zum klagen.( 27. 3. 1873)

Was der Theologe vielleicht schon erkannt hat oder ahnt, muss der Historiker erst der folgenden Textstelle entnehmen: Der lutherisch getaufte und konfirmierte Auswanderer hatte sich keiner der lutherischen Kirchen angeschlossen:

Dieses Spätjahr bauen wir eine neue Kirche, der Name der Religionsgesellschaft ist (Methodisten) zu welcher ich gehöre. Wir sind nicht sehr viele in Anzahl aber fühlen uns verpflichtet etwas zur Ausbreitung der Christenthums zu tun. Bis dahin wo die Gegend noch nicht so stark angesiedelt war haben wir in den Schulhäusern & oft auch in den Wohnhäusern Gott angebetet & verehrt & oft haben wir die Gegenwart des Heilandes gefühlt, denn er hat gesagt wo nur 2 oder 3 in meinem Namen sich versammeln, da bin ich mitten unter ihnen… (15. 9. 1873)

Es dürfte deutlich geworden sein, dass Kirche und Pfarrer, neben der deutschen Sprache mehr als jede andere aus der Heimat vertraute Institution, einen essentiellen Teil des Lebens der Auswanderer bildeten, weil sie nicht nur um ihr Seelenheil besorgt waren, sondern in der neuen, oft irritierenden wenn nicht beängstigenden Umwelt Halt und Ordnung suchten. Ebenso wie der Prozess der Anpassung, Assimilation und Integration generell ein faszinierendes Forschungsobjekt mit möglichen Nutzanwendungen für Situationen der Gegenwart bildet, lässt sich auch der Teilprozess der kirchlich-religiösen Umformung und Einfügung in die amerikanische Szene mit Gewinn untersuchen. Vermutlich liefern dabei hinsichtlich der Perspektive der Gemeinden die ungeschminkten Auswandererbriefe ein realistischeres Bild als Missionars- und Pastorenberichte, Predigten, Synodalakten, Traktate oder theologische Werke.

Auswandererbriefe stellen nicht nur wichtige Quellen für Wissenschaftler dar. Sie liefern wirksames, weil authentisches Arbeitsmaterial für Schulbücher ebenso wie für die Erwachsenenbildung. In den Schulen mögen sie im Geschichtsunterricht die deutsche Industrialisierung oder die deutsche Auswanderung veranschaulichen, aber auch in Schulen und dazu in Volkshochschulen, Akademien, Gemeinden, in der Jugendarbeit, bei Freizeiten, generell in den Medien sind sie ein vielfach bewährtes didaktisches Mittel für die Toleranzerziehung, indem sie das starre wir—sie--Schema zwischen Deutschen und Ausländern gründlich relativieren.

Natürlich ist es ein weiter Weg von dem lange Jahre vergessenen, vergilbten Brief auf dem Dachboden, den jüngere Leute der deutschen Schrift wegen kaum noch entziffern können, bis zum Abdruck des Textes im Geschichtsbuch oder auf den in einer Bildungsinstitution verteilten Kopien. Dazwischen liegen Aufrufe zur Einsendung, der Entschluss des Besitzers, dem zu folgen, das Ordnen, Katalogisieren, Transkribieren, hinsichtlich des Briefschreibers biographisch Recherchieren, zuvor noch zur Ermöglichung der Bearbeitung und Erschließung das Einwerben von Stiftungsmitteln. Selbst dann, wenn Briefe derart aufbereitet sind und für Wissenschaftler und Öffentlichkeit bereit liegen, kommen Schulbuchautoren selten angereist, um unveröffentlichtes Material zu sichten. Sie und ähnliche Benutzer bedienen sich lieber aus Büchern, die in der Bibliothek zu bestellen sind, so dass eine weitere Station hinzukommt: Die Publikation von Auswandererbrief-editionen. Aus der Nordamerika-Auswandererbriefsammlung sind bisher vier Editionen hervorgegangen, eine davon auch ins Englische übersetzt. (Auch diese Literaturangaben finden sich bei www.auswandererbriefe.de). Und aus diesen Bänden stammen die meisten der zahlreichen Zitate in den verschiedensten Lehrmaterialien.

Die gut 7500 Briefe in der NABS wurden zu einem sehr geringen Teil aus Nordamerika, der allergrößte Teil aus der alten BRD eingesandt, weil es in den 1980er Jahren nicht möglich schien, in Zeitungen der DDR für das Einsenden solcher Amerika-Briefe an eine westdeutsche Universität zu werben. Das Resultat ist eine riesige, optimal erschlossene Sammlung mit einer riesigen, in vieler Hinsicht schmerzlichen Lücke: Briefe, die aus Amerika in das Gebiet der Neuen Länder geschickt wurden, sind kaum vorhanden. Um diese Lücke zu füllen und aus einer extrem west-lastigen Sammlung eine gesamtdeutsche zu machen, ergriffen Wissenschaftler – bisher Historiker und Germanisten sowie Archivare und Bibliothekare aus Deutschland und den USA—2003 die Initiative "Briefe aus den Neuen Ländern". Unter Federführung des Lehrstuhls für Nordamerikanische Geschichte am Kennedy-Institut der FU Berlin (der auch die Vorarbeiten aus Forschungsmitteln finanzierte) und des Direktors der Forschungsbibliothek Gotha werden Drittmittel zur Bearbeitung des eingehenden Materials eingeworben, von bewährten Fachkräften Unterrichtsentwürfe zur deutschen Auswanderung erarbeitet und bereitgestellt in der Hoffnung, Lehrer dafür zu interessieren und Schüler zur Suche nach Auswandererbriefen in ihrem Umfeld zu motivieren, Kultusministerien zwecks Empfehlung des Materials und des Sammelzwecks angesprochen, Informationsmaterial an die Medien gegeben und auch mit den Kirchen Kontakt gesucht.

Warum so viel Aufwand? Die Bochumer Sammelaktion kam mit Zeitungsaufrufen aus, aber die bisherigen Erfahrungen bestätigen die Befürchtung, dass es unvergleichlich viel schwerer ist, 2004 in Ostdeutschland Auswandererbriefe zu gewinnen als 1984 in Westdeutschland. Das mag mit der Geschichte, den geschichtlichen Erfahrungen und auch mit geschichtsbedingten Einstellungen und Haltungen zu tun haben, vor allem aber auch mit den verflossenen 20 Jahren. Tod, Umzug und Ignoranz sind die unerbittlichen Feinde des Überlebens alter Briefe, und deren Verlust ist endgültig und durch nichts wieder gutzumachen. Eile, große Eile ist deshalb geboten, und es ist kaum zu hochtrabend, von der dringend notwendigen Rettung hochwertigen Kulturguts zu sprechen. "Rettung" heißt hier vor allem Sicherung in einer präservatorisch hochspezialisierten Bibliothek. Auch Auswandererbriefe aus Hessen oder Holstein sind willkommen – nicht nur in Ostdeutschland tickt die Uhr der Zerstörung – aber das enorme Defizit liegt bei den Neuen Ländern, und hierauf richten sich die Anstrengungen vor allem. Es gibt Pläne für zumindest eine weitere Edition, diesmal von bestimmten Themen gewidmeten Briefen, die als Resultat der neuen Initiative aus den ostdeutschen Ländern eingesandt werden.

Leser, die Briefe aus Amerika aus dem 19. oder 20. Jahrhundert besitzen oder von solchen wissen oder erfahren, werden herzlich gebeten, zur Erhaltung dieses wichtigen Schriftgutes beizutragen, indem sie sich wenden an – oder Briefbesitzer hinweisen auf – Forschungsbibliothek Gotha, Postfach 100130, 99851 Gotha, Tel. 03621/30800, Fax 03621/308038, Email: auswandererbriefe@flb-gotha.de.

Wer Interesse an Auswandererbriefen oder Lehrmaterial hat, zur eigenen Lektüre oder zur Gemeindearbeit, findet unter www.auswandererbriefe.de ausführliche Informationen, zahlreiche Briefe und umfangreiches didaktisches Material zur freien Verfügung.

Jede Art von Unterstützung der Bemühungen, Auswandererbriefe zu suchen, zu finden und zu retten, wird von Wissenschaftlern, Interessenten und künftigen Lesern der resultierenden Publikationen begrüßt und geschätzt.


Tagesspiegel, Berlin, 21. Oktober 2003
Auswandererbriefe aus Amerika erzählen die Alltagsgeschichte

Ursula Lehmkuhl

Im 19. Jahrhundert war Deutschland ein Auswanderungsland. Zwischen 1820 und 1914 zog es allein nach Amerika mehr als fünf Millionen Deutsche. Über ihre Erfahrungen, ihre Ängste und Erwartungen berichten die Briefe, die sie aus Amerika an daheim gebliebene Freunde und Verwandte schrieben: "Meine liebe Marie!" — so schrieb die 1884 mit 18 Jahren von Hamburg nach New York ausgewanderte Wilhelmine Wiebusch an die daheim gebliebene Freundin — "Donnerwetter hab ich noch ganz vergessen zu erzählen was es hier für schöne Früchte in Kamerika giebt, wir Essen jeden Tag Pfirsiche Melonen und Bananen dann wollte ich Dir auch noch sagen wenn Du alte Schuhe oder Stipfeln hast werfe sie nicht weg sondern binde eine rothe oder blaue Schleife daran und hänge sie an der Wand in deinem Zimmer, na du Vater, aber so was wirst Du sagen, aber das muß Du wißen liebe Marie das ist hier in Amerika Antik".

Wilhelmine Wiebusch fand in New York eine Anstellung als Dienstmädchen und berichtet in ihren Briefen vom Alltag in einer großbürgerlichen jüdischen Familie, vom Leben in New York, von ihren Zukunftsträumen und ihren Gefühlen. So erfahren wir aus einem anderen Brief an Marie: "Gestern war meine Freundin Anna hier bei mir, wir beide halten noch immer fest zusammen in Freud und Leid, diesen Somer haben wir beide eine stürmische Zeit mit durchgemacht, wir waren weit von einander entfernt, wir haben uns hir auch schon viele andere Freunde erworben, und fühlen uns grade so zu Hause wie in Hamburg, zuweilen kennen wohl Augenblicke wo wir uns nach unserer Nordischen Heimath zurück sehnen, doch so schnell wie die Gedanken kommen, verschwinden sie auch wieder, denn das Welt-Meer ligt daschwischen."

Die Geschichtswissenschaft hat sich bis weit in das 20. Jahrhundert hinein fast ausschließlich für Politik und "große Männer" interessiert und die Masse des Volkes nicht beachtet, schon gar nicht deren Gefühle. Das hat sich seit den 70er Jahren geändert. Dabei wurde schnell klar, dass das Leben und Denken und Fühlen der "einfachen Menschen" nicht über Behördenakten zu erfassen war. Man benötigt andere Quellen, um über die sozialen, emotionalen und mentalen Lebensumstände "einfacher Menschen" Aufschluß zu gewinnen.

Auswandererbriefe, die vornehmlich von einfachen Menschen geschrieben worden sind, sind eine solche durch nichts zu ersetzende, zentrale Quelle für die Sozial-, Mentalitäts- und Sprachgeschichte, aber auch für die Kultur- und Alltagsgeschichte der Aus- und Einwanderung. Auswandererbriefe machen heute den umfangreichsten Bestand von Schreiben weniger gebildeter Schichten aus. Und sie enthalten das, was derzeit Historiker auch suchen: Wünsche und Hoffnungen, Ängste und Heimweh, Stolz und Mitleid, Urteile und Vorurteile der Schreiber, kurz: die Gefühle des "einfachen Mannes" oder der "einfachen Frau", die nirgendwo sonst aufgezeichnet sind.

In den 1980er Jahren – zu einer Zeit, als eine öffentliche Einwerbung von Dokumenten bei Privatleuten in der DDR nicht möglich war – entstand an der Ruhr-Universität Bochum die weltweit mit Abstand bedeutendste Sammlung von deutschen Auswandererbriefen. Neben einer gut 5000 Texte umfassenden Sammlung gedruckter Briefe enthält die Sammlung ca. 7000 unveröffentlichte Briefe, vor allem aus dem Zeitraum 1830-1930, teils im Original, teils in Kopien des Originals, zusammen mit sehr umfangreichem biographischen und deskriptiven Material. Diese Sammlung hat allerdings eine zentrale Schwäche: Sie ist bislang eine so gut wie ausschließlich westdeutsche Institution. Der Bestand an Auswanderer-Briefen nach Ostdeutschland ist sehr gering. Es klafft hier für das Territorium der Neuen Länder eine tiefe Lücke.

Mit dem Projekt "Amerikabriefe in den Neuen Ländern" soll diese Lücke geschlossen werden. Prof. Dr. Ursula Lehmkuhl vom John F. Kennedy-Institut der FU Berlin bemüht sich um die Sicherstellung, Erschließung und Auswertung von Briefen ostdeutscher Auswanderer in den USA und Kanada im 19. und 20. Jahrhundert. Sie arbeitet eng mit dem Initiator der Bochumer Briefesammlung und amerikanischen Kollegen zusammen und wird von der Forschungsbibliothek Gotha, die die Bochumer Auswandererbrief-Sammlung beherbergt und pflegt, unterstützt. Ein wesentliches Ziel des Projektes ist es, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die erfolgreiche Bochumer Briefesammlung über ihre BRD-Zentriertheit hinsichtlich Sammelgebiet und Briefbestand hinaus wächst, durch Dokumente aus den Neuen Ländern ergänzt wird und sich damit zu einer gesamtdeutschen Auswandererbrief-Sammlung entwickelt.

Das ist im wissenschaftlichen Interesse in vielerlei Hinsicht dringend wünschenswert. Ein wichtiger Aspekt ist, dass die Probleme und Formen der Auswanderung in Deutschland nicht nur insgesamt regional verschieden sind, sondern auch und gerade zwischen den westdeutschen und den ostelbischen Territorien. Damit ist aber nur eine von vielen Forschungsperspektiven angesprochen. Die teilungsbedingte Forschungslücke ist sicherlich am ausgeprägtesten im Bereich alltags- und mentalitätshistorischer Fragestellungen, kann aber auch hinsichtlich von Untersuchungen zur Sprachentwicklung festgestellt werden.

Die Sammlung von Auswandererbriefen in den Neuen Ländern ist darüber hinaus aber auch in kulturpolitischer Hinsicht dringend geboten. Es geht dabei letztlich um die Rettung wertvollen Kulturguts, denn die Briefe in Privatbesitz werden mit jedem Jahr weniger. Bei dieser Art von Quellen in privater Hand muss davon ausgegangen werden, dass nach spätestens vier Generationen in der Familie kein Interesse mehr an solchem Material besteht und es bei Tod, Haushaltsauflösung oder Entrümpelung unwiederbringlich verlorengeht. Bei den meisten Briefen aus dem 19. Jahrhundert ist diese Schwelle bereits überschritten, und der Bestand wird rapide geringer. Es ist also Eile geboten, um dieses gerade auch für zukünftige Forschung etwa im Bereich der "transnationalen Geschichte" ungemein wichtige Quellengut zu retten.

Während sich Fragestellungen und Forschungsansätze im Zuge des rasanten Wachstums der Auswandererbriefforschung seit der Gründungszeit der Bochumer Sammlung deutlich vermehrt und zum Teil verändert haben, ist die nachdrückliche Betonung der Erschließung des gesammelten Briefmaterials geblieben. Die Briefe müssen transkribiert und die Biographien der Briefeschreiber müssen rekonstruiert werden. Dies ist heute mit Hilfe der elektronischen Medien sehr viel einfacher als es in den 1980er Jahren war. Während die Bochumer Briefe noch mit der Schreibmaschine transkribiert und per Hand katalogisiert worden sind, werden die Briefe aus den Neuen Ländern digitalisiert und als Volltext erfaßt. Zusätzlich werden sie nach bibliothekarischen Regeln katalogisiert und in einem Verbundprojekt, an dem sich auch die Library of Congress beteiligt, digital archiviert. Die Digitalisierung des Briefmaterials erleichtert den Zugriff auf des Quellenmaterial auch für Wissenschaftler im Ausland und eröffnet der kulturwissenschaftlichen Forschung neue Wege und Möglichkeiten.

Die Briefesammlung ist allerdings nicht nur für die internationale kultur- und geschichtswissenschaftliche Forschung interessant. Auch Schulen und die politische Bildung profitieren von ihr. Auswandererbriefe werden als Lehrmaterial in Schule und Erwachsenenbildung sehr häufig verwendet, weil sie einen hohen didaktischen und gesellschaftspolitischen Wert besitzen. Demonstrieren sie doch eindringlich und unmittelbar, dass auch Deutsche einmal Einwanderer waren, ihre Sprachschwierigkeiten hatten, nicht selten diskriminiert wurden und es gelegentlich auch zu Auseinandersetzungen mit den Einheimischen kam.

Wenn Leser des Tagesspiegels Amerika-Briefe besitzen oder von deren Vorhandensein wissen, würden wir uns freuen, wenn sie Kontakt mit dem Kennedy-Institut der FU oder der Forschungsbibliothek Gotha aufnehmen würden. Informationen zur Sammlung und zum neuen Projekt finden Sie unter: www.auswandererbriefe.de.


Maerkische Allgemeine, 17.7.2003
Forschungsbibliothek bittet um Mithilfe
Gotha sucht Auswandererbriefe

Wolfgang Helbich

GOTHA - "Meine geliebte Mutter! Hätten meine Verhältnisse es erlaubt, so wäre ich längst schon hinüber geeilt zu Euch. Jetzt nun kann ich es ebenso wenig, indem meine gegenwärtige Anstellung es unmöglich macht; denn der jetzige Präsident der Vereinigten Staaten, Franklin Pierce, hat mich zum Marshall des Territorium von New Mexico ernennt, und diese Anstellung erlaubt mir nicht, für eine längere Zeit abwesend zu sein." So schrieb 1854 ein in Friesack aufgewachsener Mann, der 1832 in die USA ausgewandert war, aus Santa Fé nach Hause. Der Schreiber hatte es in Amerika als Kaufmann zu Wohlstand gebracht.

Seit den 70er Jahren interessieren sich Geschichtsforscher auch für das Denken und Fühlen einfacher Menschen. Ausgerechnet Auswandererbriefe machen heute den umfangreichsten Bestand von Schreiben weniger gebildeter Schichten aus. Und sie enthalten das, was derzeit Historiker auch suchen: Wünsche und Hoffnungen, Ängste und Heimweh, Stolz und Mitleid, Urteile und Vorurteile der Schreiber, kurz: die Gefühle des "einfachen Mannes", die nirgendwo sonst aufgezeichnet sind.

In der Forschungsbibliothek Gotha befindet sich die mit Abstand umfangreichste Sammlung von deutschen Amerika-Briefen. Sie enthält etwa 7000 Briefe aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. 7000 klingt eindrucksvoll, doch die fünfeinhalb Millionen deutschen Einwanderer in die USA haben zwischen 1820 und 1914 zusammen mindestens 35 Millionen Briefe in die alte Heimat geschrieben. Das heißt: Von je 5000 Briefen, die den Atlantik überquerten, liegt gerade bestenfalls einer in Gotha.

Nicht allein, dass die mehr als 140 Wissenschaftler und Studenten, die in den 90er Jahren mit der Briefsammlung gearbeitet haben, bei einer noch größeren Zahl von Briefen erheblich mehr Wissen hätten zusammentragen können. Die an sich ja sehr beachtliche Gothaer Sammlung hat eine weitere Schwäche: Sie wurde Anfang der 80er Jahre an einer westdeutschen Universität aufgebaut, als es keine Möglichkeit gab, solches Material von DDR-Bürgern zu erbitten. Deshalb ist der Gothaer Bestand an Auswanderer-Briefen nach Ostdeutschland sehr gering. Es klafft hier für das Territorium der Neuen Länder eine tiefe Lücke.

Die Forschungsbibliothek Gotha, unterstützt von Historikern der Freien Universität Berlin und der Texas A & M University, bemüht sich deshalb intensiv um Auswandererbriefe, die im 19. und 20. Jahrhundert in das Gebiet der Neuen Länder geschickt wurden. Die Kultusministerien haben ostdeutschen Schulen bereits empfohlen, das Thema zu behandeln. Die Schüler sollen dabei auch angeregt werden, in ihrer Umgebung solche Briefe zu suchen. Beim Suchen und Einsenden dieser Dokumente geht es nicht nur um einen Beitrag zu einer von Wissenschaftlern dringend benötigten Sammlung, von der besonders bedeutsame Briefe in Buchform erscheinen sollen. Es geht vor allem um die Rettung wertvollen Kulturguts, denn die Briefe in Privatbesitz, werden mit jedem Jahr weniger. Todesfälle, Haushaltsauflösungen, unsachgemäße Lagerung und vielerlei Zufälle tragen stetig dazu bei, dass diese Zeugnisse der Vergangenheit verlorengehen. Die Universitätsbibliothek Gotha ruft daher MAZ-Leser, die Amerika-Briefe besitzen, dazu auf, sich bei ihr zu melden. Die Besitzer müssten sich nicht von den Originalen trennen. Der Bibliothek genügen Kopien.


Magdeburger Volksstimme, 12.7.2003

"Auswandererbriefe aus Amerika erzählen die Alltagsgeschichte" (151 KB)


Ostthüringer Zeitung, 3.7.2003
Auswanderer-Briefe aus Amerika gesucht
In der Sammlung der Forschungsbibliothek Gotha nur wenige ostdeutsche Dokumente

Wolfgang Helbich, Schnepfenthal

Geschichtsforscher haben sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein fast nur für Politik und "große Männer" interessiert und die Masse des Volkes nicht beachtet. Das hat sich seit den 70er Jahren geändert.

Je mehr man über das Leben, Denken und Fühlen der "einfachen Menschen" wissen wollte, desto mehr wuchs die Erkenntnis, dass ihre Briefe die wichtigste Quelle sind. Vor allem Auswanderer, die mit dem Gedanken leben mussten, die Lieben daheim nie wieder zu sehen, hielten die Verbindung durch Korrespondenz aufrecht.

In der Forschungsbibliothek Gotha befindet sich die mit Abstand umfangreichste Sammlung von Briefen deutscher Auswanderer nach Amerika. Sie enthält etwa 7000 Briefe aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, die nach Deutschland geschickt wurden, und sie ist für die Öffentlichkeit zugänglich. 7000 klingt eindrucksvoll. Aber wenn man bedenkt, dass die fünfeinhalb Mil-lionen deutschen Einwanderer in die USA zwischen 1820 und 1914 mindestens 35 Millionen Briefe in die alte Heimat geschrieben haben, so bringt eine einfache Rechnung das enttäuschende Ergebnis, dass von je 5000 Briefen, die den Atlantik nach Osten überquerten, gerade bestenfalls einer in Gotha liegt.

Durch solche Auswanderer-Briefe aus Amerika gewinnen Informationen im Lexikon oder in Fachbüchern Leben und Anschaulichkeit; sie verwandeln den trockenen Fakt in hautnahe Wirklichkeit. Aber Auswandererbriefe enthalten noch etwas Wichtigeres. Sie lassen Wünsche und Hoffnungen, die Ängste und das Heimweh, den Stolz und das Mitleid, die Urteile und Vorurteile des Schreibers erkennen, kurz: die Gefühle, die nirgendwo sonst (die seltenen Tagebücher ausgenommen) aufgezeichnet sind.

Die vorbildliche Gothaer Sammlung hat eine Schwäche. Sie wurde Anfang der 80er Jahre an einer westdeutschen Universität aufgebaut, als keine Möglichkeit bestand, solches Mate-rial von Privatpersonen in der DDR zu erbitten. Deshalb ist der Bestand an Briefen nach Ostdeutschland sehr gering. Die Forschungsbibliothek Gotha, unterstützt von Historikern der FU Berlin und der Texas A & M University, bemüht sich deshalb intensiv um Auswandererbriefe, die im 19. und 20. Jahrhundert ins Gebiet der heutigen neuen Bundesländer geschickt wurden.

Bei den Dokumenten geht es nicht nur um einen Beitrag zu einer von Wissenschaftlern dringend benötigten Sammlung, von der besonders bedeutsame Briefe in Buchform erscheinen sollen. Es geht vor allem um die Rettung von wertvollem Kulturgut, denn solche Briefe in Privatbesitz werden mit jedem Jahr weniger.

Wenn Leser Amerika-Briefe besitzen oder von ihnen wissen, können sie Kontakt aufnehmen. Die Besitzer müssten sich nicht von den Originalen trennen; Kopien genügen.